„Schreibe auf, was du gesehen und gehört hast“, sagt Ewa zu mir, „einfach aufschreiben und nicht werten“. Wir sitzen im Bus. Hebron wirkt nach.
Wir wissen beide, dass dieses Unterfangen zum Scheitern verurteilt ist. Die Eindrücke, die man gewinnt, wenn man ein kleines Stück Alltag und die Zustände in Teilen Palästinas (mit-) erlebt, lassen einen nicht neutral sehen.
Die Grundzüge des scheinbar unlösbaren Nahost-Konflikts sind landläufig bekannt; die Zustände in der Westbank und die Situation der Palästinenser häufig angeprangert. Das alltägliche Geschehen in den besetzten Gebieten bleibt aber durch ein gesellschaftliches und mediales Bleichglas schwer einsehbar. Eine Vernebelung, die verhindert, dass ein ausgeklügeltes Besatzungs- und Rechtssystem gebührend thematisiert wird und dazu führt, dass sich der Status Quo jeden Tag ein wenig mehr Unrecht und Ungleichheit schafft. Ein Unrechtssystem, dass sich aus wirtschaftlicher und militärischer Stärke speißt. Ein System, das aus einem historischem Schuldbewusstsein eine stummwiderliche Duldung erfährt. Wie absurd, dass man sofort eine Frage im Kopf hat: Darf ich das äußern? Und ist das nun antisemitisch? Dabei geht es um Ethik und darum, dass bei Menschenrechten nicht unterschieden werden darf, für welche Menschen sie gelten….
Wir haben uns mit einem 17-jährigen Soldaten unterhalten. Noch eineinhalb Jahre muss er im 4-8-4 Takt einen Zustand verteidigen und tun, was ein Soldat in seiner Freizeit halt so macht (Joggen, Schlafen, Gewehr putzen). Er hat nicht nur ein zwangloses Verhalten zu seiner Waffe, seine Augen leuchten, als er mir erklärt, was man damit alles machen kann. Er möchte später in einer Sicherheitsfirma arbeiten und mehr Geld als beim Militär verdienen. Die Siedler findet er nett, denn sie bringen im Sommer kühle Getränke vorbei. Ich denke mir die ganze Zeit: „Kann der naive Junge nicht erst mal eine Universität von innen sehen, bevor er hier weitere Lebensplanungen anstellt?
Unweit von ihm ist ein israelischer Kontrollposten eingerichtet: Kameras, Lautsprecher, eiserne Drehtüren, durch die immer nur eine Person durchgelassen wird. Eine ganze Menschentraube wartet darauf, dass eine Hand die nächste Person durchwinkt. Im Häuschen sitzen junge Menschen, die Befehle ausführen. Junge Menschen, die es nicht besser wissen als gehorsam zu sein.

Wir hören von nächtlichen Einsätzen der Soldaten. Wir hören von den Notwendigkeiten von Mitternachtsrazzien, um Präsenz zeigen und den Bestand prüfen. Wir hören von rechtsfreien Sektoren, die parallel zu den palästinensisch kontrollierte Zone H1 und die israelisch kontrollierte Zone H2 existieren. Wo ein Kläger, dort kein Richter.
Wir sehen die verrammelten Eintrittstüren und die geschlossenen Läden in der Altstadt. Wenige Palästinenser trotzen den Umständen und verkaufen ein ihre Waren in der Hoffnung auf ein bisschen Einkommen. Die Straßen sind leer. Ein paar wenige Siedler haben sich unter dem Schutz von tausenden Soldaten auf den arabischen Häuser niedergelassen. Müll hat sich in den Gittern verfangen, die sich über die Gassen spannen. Man berichtet uns, dass neben Abfall auch Flüssigkeiten aus den Fenstern geschüttet werden. Die Soldaten würden dem „Treiben der Siedler“ kein Einhalt gewähren. Die Verzweiflung ist greifbar.
Hundert radikale jüdische Siedler, hermetisch abgeschottet und geschützt von einigen Tausend israelischen Soldaten. Die Innenstadt ist in Sektoren unterteilt: Da sind Straßen, auf denen Juden fahren, Araber nur zu Fuß gehen dürfen. Manche Gassen sind für Siedler passierbar, für Palästinenser aber komplett gesperrt. Du befindest dich in einem UNESCO-Weltkulturerbe und Israel kritisiert die Entscheidung als "Fake History". Es sind richtig viele Eindrücke, die in Hebron auf mich niederprasseln.
Dies ist keine neutrale Beobachtung. Ich bin froh, dass ich einen tiefen Einblick in den Alltag der Palästinenser in Hebron bekommen durfte. Es ist ein innerisraelischer Konflikt, einiger weniger, darum, wie weit man gehen soll, um dem zionistischen Ideal zu entsprechen. Die Mehrheit toleriert diese Debatte.
Bei allen unlauteren Mitteln, die sich in ein Rechtsgewandt hüllen lassen, bei allen wirtschaftlichen Interessen die bei Fortführung dieses Zustands profitieren, bei allen politischen Konflikten, um die Bedeutungshoheit des religiösen Ideals, sollte man nicht vergessen: dieser israelische Konflikt wird auf dem Rücken der Palästinenser ausgetragen, die unter der Last brechen.
Dies ist keine Beobachtung, sondern dies ist ein Appell an die moralische Aufrichtigkeit im scheinbar unlösbaren Nahost-Konflikts. Seid die positive, kritische und demokratische israelische Gesellschaft, die ihr wiederspiegelt! Überlasst den Siedlern und dem Militär nicht die Deutungshoheit! Seid die Mehrheit.
